Kapitalgesellschaftsrecht – Mehrstimmrechtsaktien (Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie zu Mehrstimmrechtsstrukturen bei Gesellschaften, die eine Zulassung zum Handel ihrer Aktien an einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben)

Stellungnahme vom 21.2.2023

Vorbemerkung:

Nach unserem Verständnis soll die Richtlinie zweierlei regeln. Zum einen soll die grundsätzliche Möglichkeit zur Einführung von Mehrstimmrechten eingeführt werden, allerdings mit gewissen Schranken. Zum anderen sollen Regelungen eingeführt werden, die die Diskriminierung von Gesellschaften aus anderen EU-Mitgliedstaaten an Börsen wegen im EU-Ausland bestehender Mehrstimmrechtsregime verhindern.

Im Folgenden möchten wir die Rechtslage rund um die Mehrstimmrechtsakte im geschichtlichen Kontext beleuchten. Man wird sehen, dass es hier immer wieder Änderungen vom absoluten Verbot von Mehrstimmrechtsaktien bis hin zur Zulassung dieser Aktiengattung gibt. Seit 1998 sind im deutschen Aktienrecht Mehrstimmrechtsaktien nicht mehr erlaubt.

Die Rechtspraxis hat sich allerdings mit dem geltenden Verbot der Mehrstimmrechtsaktien abgefunden und hat  durch die im Aktienrecht vorgesehenen Gestaltungsalternativen adäquate und für die Gesellschaften gangbare Lösungen gefunden. Wir bezweifeln daher den Mehrwert und das Erfordernis der (Wieder-)Einführung der Mehrstimmrechtsaktie.

Im Einzelnen:

I. Mehrstimmrechte im deutschen Aktienrecht – ein kurzer rechtsgeschichtlicher Abriss

1. Rechtslage bis 1937

Bis zur Novelle des ADHGB 1871 unterlagen Mehrstimmrechte wie die anderen Elemente der Satzungsgestaltung, auch der behördliche Genehmigungsvorbehalt im Konzessionsverfahren.[1]

Nach dem Übergang zum System der Normativbestimmungen in der Reform von 1870[2] bestand ein Höchstmaß an Gestaltungsfreiheit im Aktienrecht.[3] Auch Mehrstimmrechte waren zulässig und wurden vielfach eingesetzt. Bis 1900 fehlt im ADHGB eine gesetzliche Regelung zum Stimmrecht völlig. Sedes materiae hierfür ist ab 1900 § 252 Abs. 1 Satz 4[4] HGB i. d. F. von 1900. Damit ist klargestellt, dass Mehrstimmrechtsaktien nicht aktionärsbezogen ausgegeben werden dürfen. Mehrstimmaktien (noch mehr die sog. Verwaltungsaktien[5]) waren allerdings Gegenstand der wissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskussion.

Die Rechtsprechung stand ihnen eher reserviert gegenüber und betrachtete sie auch unter dem Gesichtspunkt des § 138 BGB. Nach der Rspr. des Reichsgerichts waren Mehrstimmrechtsaktien nur zulässig, wenn diese eine eigene Aktiengattung bildeten, die sich auch durch andere Merkmale (z.B. einen Gewinn- oder Liquidationsvorzug) als die Stimmkraft von den übrigen Aktiengattungen unterschied.[6] Weiter galt das Mehrstimmrecht nicht für Beschlüsse, bei denen das Gesetz eine qualifizierte Mehrheit des bei der Abstimmung vertretenen Grundkapitals verlangte.[7]

Die Diskussion über Mehrstimmrechtsaktien gewann in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 an Schärfe, wurden sie doch (in heutiger Diktion) für Mängel der Corporate Governance in deutschen Unternehmen verantwortlich gemacht. Schon vor 1933 wurde daher im rechtspolitischen Raum über deren Abschaffung debattiert. Eng damit zusammen hängt die Diskussion über die Zulässigkeit eigener Aktien der Gesellschaft. Im Gegensatz zu Unternehmensverschmelzungen[8] ist keine empirische Forschung hierzu feststellbar. Dieser Mangel kennzeichnet die Diskussion bis heute.[9]

2. Rechtslage 1937-1998

Der NS-Gesetzgeber des AktG 1937 hielt Mehrstimmrechte als Überfremdungsschutz für grundsätzlich nicht erforderlich und stellte ihre Einführung unter einen Genehmigungsvorbehalt.[10] Was den Überfremdungsschutz als Zweck dieses Instruments anbelangt, standen dem Regime allerdings sicher andere Mittel zur Verfügung.

In der Aktienrechtsreform 1965 wurde der Rechtsstand 1937 insoweit beibehalten.[11] Mehrstimmrechte kamen in der deutschen Aktienrechtspraxis auch bei großen Gesellschaften vor. Beispiele waren die Sonderstimmrechte der Familie von Siemens in der Siemens Aktiengesellschaft oder die Stimmrechte der Kommunen als Aktionäre der Rheinisch-Westfälische-Elektrizitätswerk AG (RWE AG).

3. Rechtslage ab 1998

Erst 1998 wurden die Mehrstimmrechte im neuen § 12 Abs. 2 AktG explizit verboten. Die bestehenden Mehrstimmrechte wurden durch das KonTraG[12] abgeschafft (§ 5 EGAktG). Nachdem im Gesetzgebungsverfahren Zöllner/Hanau[13] auf die verfassungsrechtlichen Implikationen dieser Maßnahme hingewiesen hatten, sah § 5 Abs. 3 EGAktG die Gewährung eines „angemessenen Ausgleichs“ für die Betroffenen vor. Über dessen Höhe wurde in den konkreten Fällen lange gestritten.

4. Fazit

Auf einem Zeitstrahl kann man die über 100 Jahre alte Diskussion über Mehrstimmaktien daher wie folgt zusammenfassen:

Zeit Rechtslage
bis 1937 Erlaubnis mit einschränkender Rspr.
1937 bis 1998 Verbot mit öffentlich-rechtlichem Erlaubnisvorbehalt
1998 bis ??? Verbot
ab ??? Erlaubnis mit Einschränkungen

II. Mehrstimmrechte im aktienrechtlichen Kontext

Schon vor 1998 war die Bedeutung von Mehrstimmrechten im deutschen Aktienrecht kleiner als man meint.

1. Eigene Aktiengattung

Mehrstimmaktien bildeten eine eigene Aktiengattung. Ihre Ausgabe würde nach heutigen Kriterien die Marktkapitalisierung einer börsennotierten Gesellschaft schmälern, da sich diese je nach ausgegebener Wertpapierkennnummer bestimmt und jede Aktiengattung eine eigene Wertpapierkennnummer bekommt.

2. Kein Mehrstimmrecht bei „Kapitalmehrheit“

Zum einen galten Mehrstimmrechte nicht für Beschlüsse, für die eine „Kapitalmehrheit“ erforderlich ist, also für alle Satzungsänderungen einschließlich Kapitalmaßnahmen (§§ 179 Abs. 2, 182 Abs. 1, 193 Abs. 1, 202 Abs. 2, 207 Abs. 2, 221 Abs. 1, 222 Abs. 1, 229 Abs. 3, 293 Abs. 1 AktG, 65, 125, 233 Abs. 2, 240 Abs. 1 UmwG).[14]

Mehrstimmrechte waren also nur für sonstige Beschlüsse relevant, also etwa Beschlüsse über Gewinnverwendung, Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat, Wahl und Abwahl des Aufsichtsrats (§ 103 Abs. 1 AktG) oder die Kapitalherabsetzung nach Einziehung (§ 237 Abs. 4 AktG).

3. Vetorechte kautelarjuristisch möglich

Ein an Mehrstimmrechte angenähertes Ergebnis kann durch Schaffung verschiedener Aktiengattungen (§ 11 AktG) erreicht werden. Bestimmten Aktien kann ein Zustimmungsrecht zu bestimmten Beschlüssen durch Sonderbeschluss eingeräumt werden. Im Bereich der Finanzierung von „Start-ups“ haben sich hierfür in den letzten Jahrzehnten Vorzugsaktien mit Liquidationspräferenz eingebürgert. Ohnedies sieht das AktG weiterhin ausdrücklich die Möglichkeit von stimmrechtslosen Vorzugsaktien vor (§§ 139-141 AktG).

Sind (wie zumeist) professionelle Investoren in Form vermögensverwaltender Fonds organisiert, so wären diese Mehrstimmaktien steuerschädlich, da sie dann u. U. Kontrollbefugnisse ausüben würden, was steuerschädlich wäre. Gerade diesen Investoren wäre mit Mehrstimmaktien nicht gedient, sie würden sonst evtl. steuerlich als gewerblich qualifiziert.

4. Teileingezahlte Namensaktien

Bei Namensaktien kann vorgesehen werden, dass diese bereits mit Zahlung der Mindesteinlage (§ 36a Abs. 1 AktG) dennoch in voller Höhe stimmberechtigt sind (§§ 10 Abs. 2, 134 Abs. 2 AktG, vgl. auch § 184 Abs. 1 Satz 2 AktG). Das vermindert den zur Kontrolle erforderlichen Kapitalhebel erheblich. Besonders bei Versicherungsaktiengesellschaften ist diese Methode gebräuchlich.[15] § 134 Abs. 2 Satz 7 AktG schränkt diese Möglichkeit zwar ein. Jedenfalls bei Versicherungsaktien ist jedoch zulässig, bei teileingezahlten Namensaktien im Rahmen einer Kapitalerhöhung weitere Namensaktien auszugeben, bei denen die Einlage voll zu leisten ist.[16]

5. Höchststimmrechte

§ 134 Abs. 1 Abs. 2 AktG lässt Höchststimmrechte für nicht börsennotierte Gesellschaften zu. Für bei börsennotierten Gesellschaften, etwa der Volkswagen Aktiengesellschaft, gewährt § 5 Abs. 7 EGAktG Bestandsschutz.

6. Blick ins Ausland

Der radikale Schritt des deutschen Gesetzgebers von 1998 wurde nicht überall in gleicher Weise vorgenommen.[17] So kennen zahlreiche ausländische Rechtsordnungen sogenannte „Golden Shares“, mit denen ein Aktionär (z.B. der Staat) bestimmte Maßnahmen verhindern kann. Gerade als Schutz vor Unternehmensübernahmen wird dieses Instrument eingesetzt. Mehrstimmrechte sollen in manchen Rechtsordnungen auch als Anreiz für Börsengänge an diesen Plätzen dienen.[18]

7. Fazit

Die Rechtspraxis hat sich mit dem Verbot der Mehrstimmrechtsaktie längst abgefunden und ist andere, durchaus flexible Wege gegangen. Wir sehen daher keinen Bedarf der (Wieder-)Einführung der Mehrstimmrechtsaktie.

IV. Folgenabschätzung und Ausblick

1. „Gehen Sie Europens Königen einen Schritt voran, geben Sie Gestaltungsfreiheit, Sire“

Im Sinne des abgewandelten Zitats aus Schillers „Don Carlos“ läge eine Rückbesinnung des Gesetzgebers auf die Tradition von 1870, also eine Streichung jeglicher Stimmrechtsbeschränkungen sowohl in § 12 Abs. 2 als auch in § 134 AktG. An sich wäre dies eine ebenso richtige wie überfällige Rückbesinnung auf die Errungenschaften des klassischen bürgerlichen Liberalismus in der Tradition von 1848. Man hätte das Problem einfach der Gestaltungspraxis überlassen. Grenzen wären die Generalklauseln des Privatrechts (§§ 242, 138 BGB).

Relevant würde eine solche Maßnahme allerdings in erster Linie für Neugründungen. Denn bei bestehenden Altgesellschaften könnte die Einführung von Mehrstimmrechten für einzelne Aktionäre als Eingriff in die Rechtsposition der anderen Aktionäre der Zustimmung aller Aktionäre bedürfen (§ 53a AktG, Rechtsgedanke des § 180 AktG, Art. 14 GG).[19]

2. Verfassungsrechtliche Implikationen

Bei der Abschaffung von Mehrstimmrechten hat man mit Recht Art. 14 GG ins Feld geführt, da die Rechtsposition deren Inhaber beeinträchtigt wurde. Gleiches muss umgekehrt für die Mitaktionäre gelten, deren Stimmrecht durch Mehrstimmrechte beeinträchtigt wird. Durch einfachen Hauptversammlungsbeschluss mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit wird daher die Schaffung von Mehrstimmrechtsaktien nicht zu bewerkstelligen sein. Würden diese durch Kapitalerhöhung geschaffen, müsste zumindest allen Aktionären ein Bezugsrecht eingeräumt werden.[20] Ob das ausreicht, scheint nicht ausgemacht.

Eine bloße Schadensersatzpflicht dürfte verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht genügen.

Eine Abschaffung des § 12 Abs. 2 AktG kann aber nach dem Richtlinienvorschlag der Kommission in vollem Umfang nur für nicht börsennotierte Gesellschaften vorgenommen werden.[21] Für börsennotierte Gesellschaften sieht Art. 5 hingegen ein „Bürokratiemonster“ vor, das bis zur Kontrolle des Mehrheitsmissbrauchs bei Auswirkungen von Hauptversammlungsbeschlüssen auf Menschenrechte und auf Umwelteinwirkungen reicht. Die Grenzen zwischen Moral und Tyrannei sind fließend.

Um den bürokratischen Aufwand einigermaßen in Grenzen zu halten, könnte allenfalls erwogen werden, in Umsetzung oder im Vorgriff auf die neue Richtlinie § 12 Abs. 2 AktG durch einen weiteren Satz nach dem Vorbild des § 134 Abs. 1 Satz 2 AktG zu ergänzen, etwa wie folgt:

„Für nicht börsennotierte Gesellschaften kann die Satzung etwas anderes bestimmen.“

 3. Let it be

Wegen der dann zu erwartenden Renaissance der richterlichen Beschränkungen des Mehrstimmrechts sprechen letztlich gute Gründe dafür, es auch bei nicht gelisteten Gesellschaften beim jetzigen Rechtszustand zu belassen.

 

Druckfassung

 

Fußnoten:

[1] Art. 209, 211 AGHGB. Vgl. auch § 1 Abs. 2 PreußAktG v 9.11.1843.

[2] Art. 209, 210 HGB i.d.F. des G. v. 11.6.1870.

[3] Zu den Gestaltungen siehe etwa Lehmann, Das Recht der Aktiengesellschaften, Band 2, Berlin 1904, S. 160 ff.; Brodmann, Aktienrecht, Berlin und Leipzig 1928, § 252 HGB Anm. 2 a) zum Höchststimmrecht) und Anm. 2b) zum Mehrstimmrecht.

[4] Die Vorschrift lautete: „Werden mehrere Gattungen von Aktien ausgegeben, so kann der Gesellschaftsvertrag den Aktien der einen Gattung ein höheres Stimmrecht beilegen als den Aktien der anderen Gattung.“

[5] Das sind Aktien, bei denen das Stimmrecht der Verwaltung (Vorstand und Aufsichtsrat) zusteht.

[6] Siehe etwa Meyer-Landrut in Großkomm. AktG, 1973, § 12 AktG Anm. 3 unter Hinweis auf RGZ 119, 254. Hinweise zur Diskussion über Missbräuche von Mehrstimmrechtsaktien bei Bayer in Bayer/Habersack (Hg.), Aktienrecht im Wandel, Band 2, Tübingen 2007, 708-762, 733 bei Rz. 54 und bei Spindler in ibid., 995-1026, 1012 f. bei Rz. 22.

[7] RGZ 125, 359.

[8] Hierzu Vossius in Rieger/Vossius/Widmann (Hg.), Spuren der Freundschaft. Festschrift für Dieter Mayer, Bonn 2020, 87-115, 92-95.

[9] Auch Nicolussi, AG 2022, 753-763 gelangt über anekdotische Evidenz nicht hinaus.

[10] § 12 Abs. 2 AktG 1937. Hierzu auch Nicolussi, AG 2022, 753-763, 755 f.

[11] Nach Nicolussi, AG 2022, 753-763, 756 beruht dies auf der Intervention des RWE. Dass Mehrstimmrechtsaktien grundsätzlich ein Mittel gegen „Überfremdung“ sind, scheint allerdings noch lange Konsens gewesen zu sein, vgl. etwa M. Lutter/U. H. Schneider, ZGR 4 (1975), 182-211, 189-192.

[12] Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) v. 27.04.1998, BGBl. I, 786.

[13] Wolfgang Zöllner/Hans Hanau, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Beseitigung von Mehrstimmrechten bei Aktiengesellschaften, AG 1997, 206-219

[14] Meyer-Landrut in Großkomm AktG, 1973, § 12 Anm. 3 unter Hinweis auf RGZ 125, 359.

[15] Näher hierzu Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 10 AktG Rz. 8.

[16] Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 184 AktG Rz. 2a a.E.

[17] Siehe für Frankreich Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 34. Aufl. Paris 2021, Rz. 1158-1164, 1601 (dort auch zu Goldenen Aktien), 2423-2424; Nicolussi, AG 2022, 753-763, 758 zum Regulierungsgefälle zwischen Italien und den Niederlanden (Fall Chrysler/Fiat).

[18] Beispiele bei Nicolussi, AG 2022, 753-763, 754.

[19] Hierzu bereits Zöllner in Kölner Kommentar zum AktG, 2. Aufl. Stand 1986, § 12 AktG Rz. 28-32 (Anfechtbarkeit erst bei Zustimmung aller Betroffenen beseitigt)

[20] So der Vorschlag von M. Lutter/U. H. Schneider, ZGR 4 (1975), 182-211, 189-192.

[21] Dies erwägt auch Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 12 Rz. 8.

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