Stellungnahme vom 03.06.2011
Der Deutsche Notarverein dankt für die Gelegenheit zur Stellungnahme zur Feasibility Study on European Contract Law (nachstehend „Studie“).
I. Vorbemerkung
Wie bereits mit unserer Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission KOM (2010) 348 endg. vom 30. Januar 2011 (abrufbar unter www.dnotv.de —> Dokumente —> Stellungnahmen) zum Ausdruck gebracht, begrüßen wir als überzeugte Europäer Schritte auf dem Weg zu einem Europäischen Zivilrecht.
Qualitativ stellt die Studie und der als deren Anhang IV beigefügte Entwurf (nachstehend „Entwurf“) einen außerordentlichen Fortschritt gegenüber den bisherigen Vorarbeiten dar. Dies beruht aus unserer Sicht auf zwei Faktoren:
(1) Der Entwurf beschränkt sich auf die Formulierung abstrakt-genereller Rechtssätze und verzichtet auf einen ideologischen Überbau.
(2) Der Entwurf beschränkt sich auf das für Wirtschaft und Verbraucher wichtigste Teilgebiet des Vertragsrechts, das Recht des Warenkaufs nebst einigen Bereichen des Dienstleistungs- und des Werklieferungsrechts.
Insbesondere Letzteres erscheint methodisch erfolgversprechend. Europäischer Kodifikationstradition (z. B. des frz. Code civil) entspricht es, allgemeine Rechtsgeschäftslehre und allgemeines Obligationenrecht im Rahmen des Kaufs beweglicher Sachen zu regeln, also einen der häufigsten Vertragstypen zum Paradigma des Schuldrechts zu nehmen. So wird es möglich, das Europäische Vertragsrecht zuerst auf seine Akzeptanz durch die Rechtspraxis zu testen, und, falls erforderlich, in einem zweiten Schritt zu verbessern, bevor es in einem dritten Schritt „modular“ weiterentwickelt wird.
Im Folgenden stellen wir zunächst Überlegungen zum Anwendungsbereich des Entwurfs und zur Abgrenzung zwischen Vertrags- und Sachenrecht an (nachfolgend „II.“). Sodann greifen wir die von der Kommission an den Anfang der Studie (dort unter II.) gestellten Ausgangsfälle auf und formulieren aus der Sicht eines Beraters, welche Empfehlung ausgesprochen werden müsste, wenn der Entwurf bereits als optionales Instrument wählbar wäre (nachfolgend „III.“). Hierauf gestützt formulieren wir (abschließend „IV.“) unsere Bewertung und unsere Prognose für die Akzeptanz des Entwurfs in seiner jetzigen Form bei Wirtschaft und Verbrauchern.
II. Abgrenzungsfragen
1. Anwendungsbereich
Der Anwendungsbereich des Entwurfs ergibt sich nur aus dem Zusammenspiel seiner Art. 2 und 3. Er muss indirekt aus den Definitionen erschlossen werden. Vergleicht man diese Lösung mit dem dem Entwurf konzeptionell zugrundeliegenden UN-Kaufrecht, der Convention on the International Sale of Goods (nachfolgend die „CISG“, BGBl. 1989 II 588), so erscheinen Art. 1-6 CISG leichter handhabbar und zudem begrifflich erheblich präziser. Wir empfehlen schon deshalb, eine bereits bewährte Definition des Anwendungsbereichs in den Entwurf zu übernehmen. Sinnvoll erschiene es auch, den Verkauf von Waren im Rahmen eines Immobilienerwerbs (z. B. Lampen und Küchen) oder andere typengemischte Geschäfte dem nach allgemeinem Schuldstatut anwendbaren nationalen Recht zu unterstellen.
Zudem ist die Konzeption der CISG schon seit über 20 Jahren international eingeführt. Hierdurch würden auch im außereuropäischen Rechtsverkehr Abgrenzungsprobleme vermieden und die Chance eröffnet, das Europäische Vertragsrecht auch außerhalb der EU als anerkannten Standard zu etablieren. Der „Export“ europäischen Rechts wäre so erleichtert.
2. Erweiterung des Anwendungsbereichs
Über die CISG hinaus legt es allerdings der technische Fortschritt der letzten 25 Jahre nahe, den Anwendungsbereich des Entwurfs über den reinen Warenkauf und Werklieferungsvertrag hinaus auf den Kauf von Dateien zu erweitern. Bei Inkrafttreten des CISG in Deutschland hatte die CD gerade die Langspielplatte abgelöst. Heute kämpft die CD gegen die Konkurrenz des digitalen Musik-Downloads. Gleiches gilt etwa für Computerprogramme. Auch diese können z. B. mangelhaft sein, etwa wenn zwar der Datenträger (so vorhanden) mangelfrei, die Datei selbst aber beschädigt ist.
Es scheint daher erforderlich, diese Produkte mittels einer gesetzlichen Fiktion den „Waren“ gleichzustellen, also unter „Waren“ sowohl „bewegliche körperliche Gegenstände“ als auch „elektromagnetisch kodierte Informationen“ zu fassen. Letztere wären allerdings wieder von entgeltlichem Funk-, Rundfunk- und Fernsehempfang („Pay-TV“) abzugrenzen (Frage 7 der Studie)[1], um angesichts der inhaltlichen Qualität mancher Fernsehprogramme eine Flut von Gewährleistungsansprüchen zu vermeiden.
3. Abgrenzung zum Sachenrecht und Form des Rechtsgeschäfts
Nach Art. 94 Abs. 1 lit. b) des Entwurfs ist der Verkäufer verpflichtet, dem Käufer das Eigentum an der verkauften Ware zu verschaffen. An diesem Punkt stellt sich die Frage nach dem auf die Eigentumsübertragung anwendbaren Recht. Die CISG stellt klar, dass dies eine Frage des nach allgemeinen Grundsätzen des internationalen Privatrechts zur Anwendung kommenden Sachenrechts ist. Die Lösung von Art. 4 lit. b) CISG (d. h. eine vernünftige Selbstbeschränkung des Normgebers auf das Machbare) erscheint jedoch auch in dieser Frage vorzugswürdig:
Im Grundstücksrecht mag die Frage nach dem anwendbaren Sachenrecht noch einfach sein; es ist die lex rei sitae des Grundstücks anzuwenden. Im Anwendungsbereich des Entwurfs, insbesondere beim grenzüberschreitenden Kauf von Waren, sind die sachenrechtlichen Implikationen dagegen schon sehr viel komplexer. Gilt das Sachenrecht des schuldrechtlichen Leistungsorts oder des Orts der tatsächlichen Besitzverschaffung? Wonach richten sich besitzlose Pfandrechte (z. B. deutsches Vermieter- oder Spediteurpfandrecht nach §§ 562 BGB, 441 HGB bzw. französische privilèges) oder Eigentumsvorbehalte (sind diese überhaupt zulässig)? Ist gutgläubiger Erwerb möglich? Wann hat der Käufer Besitz an der Ware erlangt? Wie sind Verbindung, Vermischung und Verarbeitung zu behandeln (Einbau von Waren in ein Gebäude etc. – hierzu auch oben 1.)?
Wegen der Wirkung des Eigentums und anderer dinglicher Rechte gegenüber Dritten, insbesondere wegen der vollstreckungs- und insolvenzrechtlichen Konsequenzen hieraus scheidet eine Rechtswahl bezogen auf das Sachenrecht von vornherein aus. Das Sachenrecht muss zwingend dem anwendbaren nationalen Recht überlassen bleiben. Dies sollte auch im Rahmen der Festlegung des Anwendungsbereichs des Europäischen Vertragsrechts eindeutig klargestellt werden.
Nicht nur der Eigentumserwerb an Liegenschaften, sondern auch der Eigentumserwerb an Waren unterliegt dementsprechend den verschiedensten nationalen Verfahrensvorschriften, die alle in engem Zusammenhang mit nationalem Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht stehen. Während z. B. nach französischem Recht der bloße Willenskonsens für den Eigentumserwerb im Verhältnis unter den Vertragsteilen (nicht aber gegenüber Dritten) ausreicht, ist nach deutschem Recht neben dem Willenselement (Einigung, § 929 BGB) eine Tatsachenhandlung (Besitzverschaffung) für die Wirksamkeit des Eigentumserwerbs sowohl erga omnes als auch inter partes erforderlich.
Insbesondere hier gewinnt auch die Form (als Neben- oder Endprodukt eines solchen Verfahrens) an Bedeutung. Hier enthält Art. 9 (wie die CISG, aber ohne deren klare Abgrenzung zum Sachenrecht) den Grundsatz der Formfreiheit. Dieser Programmsatz wird jedoch durch den Entwurf selbst weitgehend entwertet. Denn die umfangreichen vorvertraglichen Informationspflichten, Belehrungen, Muster von Widerrufsrechten und dergleichen sind teils nach ausdrücklicher Vorschrift des Entwurfs, teils schon zum Selbstschutz der Vertragsparteien umfangreich zu dokumentieren. Jedenfalls im Bereich der Verbraucherverträge stellt Art. 9 einen Rechtssatz als Regel auf, der in Wahrheit die kaum anzutreffende Ausnahme darstellen wird. Unterhalb der Textform bzw. der Schriftform wird es kaum gehen.
Im europäischen Sekundärrecht finden sich zudem zahlreiche Vorschriften, die einen Vorrang besonderer Verfahrensvorschriften für den Eigentumsübergang am Belegenheitsort vorsehen. Zu nennen wären hier etwa Art. 29 Abs. 3 der VO Nr. 2157/2001 (SE-VO), der letztlich auf Art. 19 Abs. 3 der Richtlinie 1978/855/EWG (Verschmelzungsrichtlinie) zurückgeht (entsprechend auch Art. 17 Abs. 3 der Spaltungsrichtlinie 82/891 EWG). In Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 ordnet der Verordnungsgeber einen Vorrang für Formvorschriften am Ort des Vertragsschlusses an. Auch der Entwurf einer Verordnung über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen im Bereich des Ehegüterrechts vom 29. März 2011 (KOM(2011) 126 endg.) sieht in seinen Art. 19 und 20 Entsprechendes vor. Begründet wird dies mit dem Schutz des schwächeren Vertragsteils.
Wir empfehlen daher schon aus Gründen der Konsistenz mit dem bestehenden acquis communautaire, in Art. 9 des Entwurfs klarzustellen, dass sowohl am Ort des Vertragsschlusses geltende Formerfordernisse als auch nationale Rechtsvorschriften, die für die Wirksamkeit der Übertragung des Eigentums besondere Förmlichkeiten erfordern, unberührt bleiben.
4. Grenzüberschreitender Bezug
Die von der Kommission unter II genannten Ausgangsfälle lassen den Schluss zu, der Entwurf sei nur auf Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug anwendbar. Dies entspricht auch der bisherigen Begründung der Kommission, die das Nebeneinander nationaler Privatrechtsordnungen nur für den grenzüberschreitenden Verkehr als Hemmnis erkannt hat. Für Geschäfte innerhalb eines EU-Mitgliedstaates oder zwischen Staatsbürgern desselben Mitgliedstaates stellt sich dieses Problem nicht; diese gehen selbstverständlich von der Geltung „ihrer“ nationalen Rechtsordnung aus. Anderes wäre überraschend im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB.
Im Entwurf wird insoweit jedoch keine klare Festlegung getroffen. Schon mit Blick auf die Rechtssetzungskompetenz der Europäischen Union in diesem Bereich empfiehlt sich diesbezüglich eine ausdrückliche Klarstellung.
5. Rechtswahl
Es fehlen derzeit noch Regelungen, wie das Vertragsrecht des Entwurfs von den Parteien für anwendbar erklärt werden soll. Kann man die Anwendung europäischen Vertragsrechts in Allgemeinen Geschäftsbedingungen einseitig „stellen“ oder widerspräche das dem vom Entwurf selbst aufgestellten Grundsatz des good faith and fair dealing? Wie verhält es sich bei einander widerstreitenden AGB („battle of forms“)? Wie kann der andere Vertragspartner, insbesondere der Verbraucher, Europäisches Vertragsrecht wählen? Wie können die Vertragsparteien seine Anwendung explizit ausschließen?
Gerade vor dem Hintergrund, Überraschungen des Rechtsverkehrs zu vermeiden, kann für das Europäische Vertragsrecht allenfalls ein „Opt-In“ Modell gewählt werden. Die Anwendung eines supranationalen Rechts sollte auf einer bewussten und ausdrücklichen Wahl der Beteiligten beruhen. Dies führte sodann zu einem fairen und aussagekräftigen Wettbewerb zwischen supranationalem und nationalem Recht.
III. Ausgangsfälle
Die Kommission begründet die praktische Relevanz eines Europäischen Vertragsrechts (unter II. der Studie) mit drei Modellfällen, in denen die Situationen b2c (Fall 1 – „Juwelier“), c2b (Fall 2 – „Pariser Mode“) und b2b (Fall 3 – „polnische Kinderbetten“) behandelt werden. Wir nehmen diese Fälle zum Anlass, zu untersuchen, ob eine Option für ein Europäisches Vertragsrecht in diesen Beispielen einer „best practice“ des Rechtsberaters entspräche. Mithin wird aus der Perspektive des beratenden Juristen zum Entwurf und zu den Fragen unter V. der Studie Stellung genommen.
1. Juwelier
Ein Berater wird den Juwelier auf folgende Konsequenzen hinweisen, die mit dem Aufbau eines Online-Handels für Schmuck verbunden sind.
a) Geldwäsche
Jenseits der anwendbaren Vertragsrechtsordnung bietet Online-Handel für Schmuck erhebliches Potenzial für Geldwäsche dadurch, dass die Identität des Empfängers der Ware (und des Zahlers) verschleiert werden kann. Der Betreiber der Online-Plattform wird daher ständig mit den Strafverfolgungsbehörden zu tun haben. Dies gilt insbesondere, wenn Waren in andere Jurisdiktionen versandt werden. Bereits dieser Umstand bindet erhebliche personelle Kapazitäten. Folge hiervon sind Kostensteigerungen, die eingepreist werden müssen. Diese Überlegung zeigt, dass es noch ganz andere Hindernisse für den Warenverkehr im Binnenmarkt gibt als das Vertragsrecht.
Doch auch die Wahl Europäischen Vertragsrechts birgt für den Juwelier erhebliche Geschäftsrisiken. Diese liegen in folgenden Umständen:
b) Informationspflichten
Art. 13-22 des Entwurfs sehen zwingend (Art. 22) umfangreiche vorvertragliche Informationspflichten vor, für deren Erfüllung der Verkäufer beweispflichtig ist (Art. 21). Was bei Schmuckstücken anzugeben ist, bleibt unklar. Muss die genaue Herkunft und Beschaffenheit von Perlen angegeben werden oder reicht eine Gattungsbezeichnung („Süßwasserperle“, „Zuchtperle“ etc.) aus? Reicht die Angabe der Länge eines Colliers oder muss angegeben werden, an welcher Stelle des Decolletés der Schmuck zum Aufliegen kommt? Muss der Käufer eines Rings darauf hingewiesen werden, dass er die Dicke seines Ringfingers messen muss? Die Konkretisierung dieser Informationspflichten ist für jede in Betracht kommende Ware zu leisten. Bis dahin herrscht Rechtsunsicherheit. Bei jedem neuen Produkt stellt sich die Frage nach dem Umfang der Informationspflichten aufs Neue. Die Erstellung dieser Dokumentation und ihre ständige Pflege bindet ebenfalls in erheblichem Umfang personelle Kapazitäten.
c) Duty to negotiate in good faith
Die Verfasser des Entwurfs können dahingehend verstanden werden, dass die Begründung und Ausübung subjektiver Rechte nicht unter den generellen Vorbehalt von Außenschranken der objektiven Privatrechtsordnung (Vorgaben der Rechtsordnung wie das Verbot von Kriegswaffenhandel oder von Kinderarbeit) gestellt würden, sondern „Treu und Glauben“ als systemimmanente Schranke des subjektiven Rechts aufzufassen sei. Dieser Ansatz, den man gewöhnlich als „materiale Vertragsgerechtigkeit“ bezeichnet, ist aber nicht unproblematisch.[2]
Art. 8 des Entwurfs erscheint hier für sich genommen noch relativ ungefährlich, drückt die Vorschrift allein jedenfalls für kontinentale Rechtsordnungen etwas Selbstverständliches aus. Ein Engländer mag dies bereits anders sehen. Irritierend ist aber auch für einen Kontinentaleuropäer das wiederholte Aufgreifen dieses Gedankens, etwa in Art. 27, Art. 28, Art. 81, Art. 85, Art. 175 und Art. 180 des Entwurfs. Diese zusätzlichen Vorschriften sind jedenfalls überflüssig, wenn nicht gar gefährlich, öffnen sie das Europäische Vertragsrecht doch für eine allgemeine richterliche Billigkeitskontrolle von Rechtsgeschäften.
Die Verfasser des Entwurfs scheinen die Problematik zu erkennen. Dies zeigt Art. 4 Abs. 1 des Entwurfs mit dem Versuch, „reasonableness“ quasi objektiv zu definieren. Jedoch greift die Definition mit „purpose“ einerseits auf subjektive Elemente zurück und begibt sich andererseits mit „nature“ auf das schwierige Terrain metaphysischer Spekulation in der Tradition des Deutschen Idealismus.
Die damit verbundene Prognoseunsicherheit kann für den Juwelier z. B. folgende Konsequenz haben: Online-Handel mit Schmuck wird ohne Vorauskasse kaum möglich sein. Schon der „normale“ Internethandel arbeitet mit ausgefeilten „Scoring-Modellen“, bei denen in Abhängigkeit von Kundenadresse und Datenbankabfragen den Kunden nur bestimmte Zahlungswege angeboten werden. So hat der Betreiber eines Internetportals für Heimtierbedarf dem Unterzeichner glaubhaft erklärt, dass in bestimmten Regionen des Ruhrgebiets das Zahlungsausfallrisiko bei 80 % liegt, im Landkreis Starnberg hingegen bei 2 %. Der Zusammenhang zwischen der Effizienz eines Justizsystems und der Verbreitung des Versandhandels ist schon lange bekannt. Es ist anzunehmen, dass derartige signifikante Unterschiede auch innerhalb verschiedener Regionen anderer EU-Mitgliedstaaten bzw. zwischen verschiedenen EU-Mitgliedstaaten existieren dürften.
Inwieweit sich solche Modelle mit Blick auf Art. 27, 28, 114 des Entwurfs und das allgemeine Diskriminierungsverbot aufrechterhalten lassen, ist ohnedies eine offene Frage. Würde man hier das Diskriminierungsverbot anwenden, gäbe es keinen Online-Handel gegen Rechnung mehr. Zudem stellt sich die Frage, ob Art. 172 und die darin bestimmte gesetzliche zinslose Stundung auf die Auslegung der Generalklauseln einwirkt.
d) Regelungen zur Zahlung (Frage 6 der Studie)
Art. 130 des Entwurfs enthält bei einem Kunden, der mehrere Bestellungen aufgibt und nur teilweise bezahlt, einen unklaren Maßstab für die Tilgungsverrechnung.
Art. 172 liefert noch eine zusätzliche Einladung zum Nichtzahlen, deren Kosten eingepreist werden müssen und eingepreist werden. There is no such thing as a free lunch.
Die nicht ganz triviale Zinsberechnung nach Art. 171 i. V. m. Art. 127 des Entwurfs ist Sache des Gläubigers. Entspricht es der Pflicht zum „fair dealing“, wenn der Juwelier im Ausgangsfall England als Zahlungsort mit einem lettischen Käufer vereinbart? Und wenn nicht: Wie ermittelt man z. B. die „commercial bank short-term lending rate“ für Lettland? Wie “long” oder „short“ ist „short-term“? Ist eine Sparkasse eine “commercial bank”? Hier wäre ein Pauschalzinssatz besser, vergleichbar dem deutschen § 247 BGB. Denkbar wäre auch, den gesetzlichen Verzugszins am Wohn-/Geschäftssitz des Schuldners vorzusehen, mindestens jedoch den gesetzlichen Verzugszinsatz am Wohn-/Geschäftssitz des Gläubigers (denn dort entsteht der Schaden). Zudem stehen vertragliche Vereinbarungen zur Verzinsung unter dem Damoklesschwert des Art. 175. So wie der Zinssatz jetzt geregelt ist, wirkt er als zusätzlicher Anreiz zur Nichtzahlung und wird die Ziviljustiz erheblich belasten.
e) Widerrufsrecht
Europäischem Verbraucherschutzrecht entsprechend sieht Art. 40 des Entwurfs ein zwingendes Widerrufsrecht vor. Immerhin enthalten dessen Absätze 2 und 3 erheblich umfangreichere Ausnahmen hiervon als das bisherige Recht. Damit wird den Besonderheiten verderblicher und personalisierter Ware in gewissem Maße Rechnung getragen. Absatz 3 trägt insbesondere den Spezifika des Versandes von Kosmetikartikeln Rechnung.
Allerdings werden hierdurch die vorliegenden empirischen Erkenntnisse[3] über Mitnahmeeffekte bei Ausübung des Widerrufsrechts durch Verbraucher noch nicht ausreichend berücksichtigt. Besonders oft kommt es nämlich bei sog. anlassbezogener Ware zur Ausübung des Widerrufsrechts. In der Praxis betrifft das insbesondere Taufkleider, Campingbedarf und Kameras, bei denen nach Gebrauch das Widerrufsrecht ausgeübt wird (bei Taufkleidern soll der Anteil zurückgegebener Ware 80 % betragen).
Bei Schmuck handelt es sich ebenfalls um anlassbezogene Ware, die typischerweise für familiäre und gesellschaftliche Ereignisse benötigt wird (Familienfeiern, Bälle etc.). Auch der Juwelier des Ausgangsfalles muss mit einer erheblichen Rücklaufquote rechnen. Von den Ausnahmen des Art. 40 Abs. 2 lit. c) oder Absatz 3 lit. a) des Entwurfs wird er kaum Gebrauch machen können. Zum einen ist ein Versiegeln der Ware aus hygienischen Gründen nicht erforderlich. Zum anderen hängt der Schmuckpreis nicht unmittelbar vom Edelmetallpreis ab. Letzterer ist nur einer von mehreren preisbildenden Faktoren. In Betracht kommt ein Ausschluss des Widerrufsrechts nur, wenn das Produkt „clearly personalized“ ist. Das wäre allenfalls bei Sonderanfertigungen aufgrund eines eigens hierfür erstellten Entwurfs denkbar. Doch selbst eine solche Anfertigung könnte auch von jemand anderem getragen werden.
f) Abnahmepflicht
Sucht man im Entwurf eine eindeutige Pflicht des Käufers, die Ware abzunehmen (vergleichbar § 433 Abs. 2 BGB), so findet man eine solche nur in abgeschwächter Form. Art. 100 des Entwurfs setzt eine vertraglich vereinbarte Abnahmepflicht voraus, statuiert aber keine solche. Art. 125 lit. b) des Entwurfs ist hier zwar schon etwas präziser, wird aber durch Art. 131 lit. a) des Entwurfes wieder relativiert. Denn was bedeutet „could be expected …“? Wie lange muss man zu Hause erreichbar sein? Wie viele Zustellversuche sind dem Verkäufer zumutbar? Welchen Einfluss haben die allgemeinen Fairnessvorbehalte des Vertragsrechts hierauf? Bis diese Fragen obergerichtlich entschieden sind (d. h. letztlich durch den EuGH), dürfte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Bis dahin hätte die Praxis nach dem Grundsatz von „Versuch und Irrtum“ zu verfahren.
g) Beschaffenheitshaftung
Nach Art. 102 des Entwurfs (negative Formulierung: „does not conform with the contract unless …“) trägt der Verkäufer die Beweislast für die gegebene Beschaffenheit. Das widerspricht allen bisherigen Rechtsgrundsätzen, wonach der Käufer die Fehlerhaftigkeit der Ware substantiiert vorzutragen und erforderlichenfalls zu beweisen hat. Im Lichte der umfangreichen vorvertraglichen Informationspflichten, deren Verletzung ebenfalls nicht folgenlos bleibt (Art. 25), ist dies nicht nachvollziehbar.
h) Verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung des Verkäufers
Nach Art. 108 Abs. 1 lit. e) kann der Käufer im Fall der Nichterfüllung Schadensersatz verlangen. Verschulden des Verkäufers ist nicht vorausgesetzt. Für den Schaden selbst gelten die Artikel 163 ff. Führt also in dem in der Literatur[4] genannten, dem „Schwimmschalter-Fall“ des BGH nachgebildeten Beispiel, ein vom Verkäufer unverschuldeter Produktmangel zu einem Brandschaden in der Wohnung des Käufers, so haftet der Verkäufer dem Käufer verschuldensunabhängig.
Auf den ersten Blick klingt das sehr verbraucherfreundlich. In der Praxis bedeutet dies allerdings nur, dass die Hausrat- und Brandversicherung des Verbrauchers beim Verkäufer Regress nimmt. Damit handelt es sich wirtschaftlich nicht um Verbraucherschutz, sondern nur um eine Frage der Risikoallokation zwischen Unternehmen und damit um eine Frage der Preisbildung (Preis für die Ware, Höhe der Versicherungsprämie). Ob der weitere Regress des Verkäufers gegen seinen Vormann (Hersteller etc.) gelingt, hängt u. a. davon ab, wo dieser seinen Gerichtsstand hat. Bei Ware aus China wird man die Werthaltigkeit des Regressanspruchs getrost mit € 0,00 ansetzen dürfen. Der Verkäufer wird sich also gegen das Produkthaftpflichtrisiko höher versichern müssen als bisher, was die Ware wiederum verteuert. Die Versicherungsprämie des Verbrauchers müsste wegen der erweiterten Regressmöglichkeit gegen den Verkäufer bzw. gegen dessen Versicherer eigentlich sinken. Ob sie das tut, bleibt abzuwarten. Der Hersteller muss sich gegen den Ausfall seiner Zulieferer versichern; seine Prämie wird unter Umständen ebenfalls steigen, was eingepreist werden wird.
Makroökonomisch stellt die Regelung eine geschickte Form nichttarifärer Handelshemmnisse der EU im Verhältnis zum Ausland dar, insbesondere zu China und den asiatischen „Tigerstaaten“, gewissermaßen einen Zoll für ein nicht verlässliches Rechtssystem. Gleiches gilt im übrigen auch für Waren aus EU-Mitgliedstaaten, in denen die Durchsetzung von Produkthaftpflichtansprüchen aufwändiger ist (z. B. auch Italien). Ob das politisch sinnvoll ist, mögen andere beurteilen als wir. Bislang jedenfalls hat sich die Beschränkung einer reinen Erfolgshaftung auf wenige Ausnahmefälle im Zusammenspiel mit Versicherungslösungen durchaus bewährt. Über die Fälle der Eigentumsverletzung durch weiterfressende Mängel hinaus besteht eine verschuldensunabhängige Verkäuferhaftung auch für reine Vermögensschäden. Auch das wäre aus der Sicht des deutschen Rechts ein Novum.
Bei Schmuckherstellern wie im Ausgangsfall mag zwar das Risiko einer Erfolgshaftung gering sein. Für andere Waren gilt dies nicht.
i) Kein negatives Interesse
Ficht der Käufer den Vertrag wegen Irrtums an (Art. 45 ff.), so ist er dem Verkäufer nicht zum Ersatz von Vertrauensschäden verpflichtet. Angesichts der extensiven vorvertraglichen Informationspflichten verwundert dies nicht nur, es erscheint auch insgesamt nicht interessengerecht. Etwas anderes mag dann gelten, wenn der Anfechtungsgrund (ausnahmsweise) vom Verkäufer gesetzt wurde.
j) Inhaltskontrolle auch für Individualvereinbarungen (Frage 2 der Studie)
Die nach Art. 81 des Entwurfs vorgesehene Inhaltskontrolle auch von Individualvereinbarungen generiert zusätzliche Unsicherheiten und Risiken. Wann liegt eine „signifikante Benachteiligung“ vor? Warum wird hier speziell noch einmal die bereits in Art. 8 des Entwurfs postulierte Hauptpflicht „good faith and fair dealing“ angeführt? Mit wie viel wirtschaftlichem Verständnis darf der Juwelier des Ausgangsfalles bei der Anwendung dieser Regel durch einen Richter rechnen?
k) Beratungsempfehlung
Im Ergebnis wird ein Berater dem Juwelier des Ausgangsfalls empfehlen, seinen Plan aufzugeben, eine Online-Plattform für die EU zu schaffen. Vorzugswürdig ist, statt dessen ein Netz von Handelsvertretern oder Kommissionären in den jeweiligen Ländern aufzubauen, die dort die Ware in ihren Geschäftslokalen verkaufen. Zur Gestaltung der Rechtsbeziehungen mit diesen Repräsentanten siehe Fall 3 (polnisches Kinderbett).
2. Pariser Mode
Ob in diesem Fall für den Distanzkauf zwischen der finnischen Verbraucherin und dem französischen Verkäufer Europäisches Vertragsrecht, finnisches Recht oder französisches Recht gilt, ist aus Konsumentensicht nicht von großer Relevanz.
Denn grundsätzlich bieten auch die jeweiligen nationalen Kaufrechte angesichts ihrer bereits recht fortgeschrittenen Harmonisierung durch Gemeinschaftsrecht ein hohes Schutzniveau.
a) Vorvertragliche Informationspflichten
Die im Europäischen Vertragsrecht vorgesehenen vorvertraglichen Informationspflichten stellen hier keinen Mehrwert dar. Die finnische Kundin will Kleider, die ihr und zu ihr passen. Ob ein Kleid passt und der Trägerin auch „steht“, wird keiner Informationsbroschüre zu entnehmen sein.
b) Telefonische Kaltakquise
Europäisches Vertragsrecht bietet in den Fällen telefonischer Kaltakquise dem Verbraucher ein höheres Schutzniveau als das über EU-Recht schon weitgehend vereinheitlichte nationale Recht des Verbraucherkaufvertrages (Art. 20 Abs. 2 und 6 des Entwurfs). Damit ist einer wiederholten Forderung des Deutschen Notarvereins entsprochen worden, die z. B. auch zur Verbraucherrechterrichtlinie unterbreitet wurde. Wir begrüßen diesen überfälligen Schritt ausdrücklich. Allerdings setzt Art. 20 des Entwurfs voraus, dass er überhaupt anwendbar ist. Wer Telefonmarketing betreibt, wird kaum zum Europäischen Vertragsrecht optieren. An dieser Stelle ist das Fehlen von Regeln zur Rechtswahl im Entwurf (oben II. 5.) besonders misslich.
c) Wegfall der Geschäftsgrundlage (Frage 3 der Studie)
Art. 92 des Entwurfs kodifiziert die gemeinrechtliche clausula rebus sic stantibus bzw. die deutsche Lehre vom Wegfall bzw. der grundlegenden Änderung der Geschäftsgrundlage. Art. 79 CISG enthält im Ansatz Vergleichbares. Absatz 1 würde im Übrigen den Fall der völligen Entwertung einer Zahlungspflicht durch Inflation, den Ausgangsfall der Lehre von der Geschäftsgrundlage in der Rechtsprechung des Reichsgerichts der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, aus deren Anwendungsbereich ausnehmen.
Auch hier stellt sich die Frage, was durch Art. 92 des Entwurfs im Vergleich zu dessen Art. 8 gewonnen ist. Wie verhält sich Art. 92 zu Art. 180 des Entwurfs? Sind beide Vorschriften kumulativ anwendbar oder ist Art. 180 im Anwendungsbereich des Art. 92 durch diesen verdrängt?
Davon abgesehen dürfte die Vorschrift zumindest keinen Schaden anrichten. Zu viel sollte man sich ohnedies von ihr nicht erwarten. Auch mit dem Europäischen Vertragsrecht werden sich Fälle wie Krell vs. Henry[5], die den „Großen Fermat’schen Satz“ des Schuldrechts darstellen, nicht stringent begründet lösen lassen.
d) Beschränkung des Rechts auf Rückgängigmachung des Vertrags
Nach dem Entwurf ist das Schutzniveau bei Sachmängeln u. U. geringer als nach nationalem Recht. Das Recht auf Rückgängigmachung des Vertrages besteht nach Art. 115 des Entwurfs nur, wenn die Nichterfüllung des Vertrages wesentlich ist („fundamental non-performance“). Dieser Ansatz ist Art. 49 CISG nachgebildet. Nach Art. 46 Abs. 2 CISG gilt dies auch für die Nacherfüllung.
Art. 112 des Entwurfs gibt dem Käufer primär nur ein Wahlrecht zwischen Nachbesserung und Nachlieferung, erst im Fall des Fehlschlagens einer der beiden und einer weiteren Fristsetzung steht ihm das Recht zur Rückgängigmachung des Vertrages zu, Art. 116 des Entwurfs . Hier setzt eine unangemessen kurze Frist nicht etwa die angemessene Frist in Lauf, sondern ist unwirksam (Art. 116 Abs. 1 Satz 2 des Entwurfs), sofern der Verkäufer der Fristsetzung unverzüglich widerspricht (Art. 116 Abs. 2 des Entwurfs). Hierfür trägt der Verkäufer das Zustellungsrisiko. Das belastet zum einen den Käufer unnötig, da es ihn zu allzu langen Fristsetzungen zwingt, zum anderen den Verkäufer, da er sofort tätig werden muss. Die automatische Ingangsetzung der angemessenen Frist führt dazu, dass, sofern der Mangel einmal behoben ist, die „Lust am Streiten“ sich dann auch deutlich vermindert, ohne dass formalistische Aktivitäten entfaltet werden müssen.
e) Kaufpreisrückzahlung
Die Pflicht zur Kaufpreisrückzahlung steht unter den Unsicherheiten der Art. 171 des Entwurfs (wie soll der Verbraucher seine Zinsansprüche ausrechnen?) und des Art. 180 des Entwurfs (Anpassung der Rückzahlungspflicht).
f) Rückabwicklung (Frage 5 der Studie)
Im Fall der Rückabwicklung sieht Art. 176 Abs. 1 des Entwurfs eine beiderseitige Pflicht zur Rückgewähr des Erlangten vor, die in Absatz 1 Satz 2 als „reciprocal“ bezeichnet wird. Da das Wort sonst im Entwurf nicht vorkommt, stellt sich die Frage nach seinem Erkenntniswert.
Die Pflicht zur Rückgewähr erstreckt sich nach Absatz 2 auch auf Sach- und Rechtsfrüchte (offenbar nicht auf sonstige Gebrauchsvorteile), und zwar unabhängig davon, ob der Käufer gut- oder bösgläubig war, sowie ohne Regelung für Übermaßfrüchte und solche, die im Rahmen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft gezogen wurden. Dies erscheint im Vergleich zu § 347 Abs. 1 BGB etwas holzschnittartig.
Der Art. 177 des Entwurfs erweitert diese Pflicht auf einen Anspruch auf Wertersatz, der wiederum nach Art. 178 des Entwurfs auf bösgläubige Besitzer beschränkt wird. Die Verzinsung in Art. 178 Abs. 2 des Entwurfs verweist auf dessen Art. 171 mit den oben zu Fall 1 d) aufgezeigten Schwierigkeiten, die diesmal den anderen Teil treffen.
Art. 179 des Entwurfs soll wohl eine Art Verwendungsersatz begründen. „Expenditure“ bedeutet allerdings eher Aufwand, blickt also auf die Ausgabenseite, nicht auf die Mehrung der Aktivseite wie die „Verwendung“. Die Parallelvorschrift im deutschen Recht wäre § 347 Abs. 2 BGB. Eine aufgedrängte Bereicherung erscheint hier möglich. Zwischen notwendigen, nützlichen und sonstigen Verwendungen wird jedoch nicht differenziert.
So wird das nicht von ungefähr ausgefeilte System des klassisch römischen Senatus Consultum Iuventianum[6] (heute §§ 2018 ff. BGB und davon abgeleitet §§ 985 ff. BGB) zu sehr vereinfacht. Letztlich bleibt nur die beherzte Flucht in die Billigkeitsklausel des Art. 180 des Entwurfs. Über die Konkretisierung dieser Billigkeitsklausel wird es dann – allerdings erst nach Jahren der Rechtsunsicherheit – wieder zur Anwendung des traditionellen Systems kommen.
Es ist nicht zu ändern: Die Rechtsbeziehungen zwischen dem nichtbesitzenden Eigentümer und dem besitzenden Nichteigentümer sind alles andere als trivial. Seit 2000 Jahren arbeiten die besten Juristen Europas an einer Lösung der Probleme, die Publius Iuventius Celsus als Berichterstatter des römischern Senats in wenigen kunstvollen Zeilen skizziert hat. Die Lösung involviert eine gesamte Zivilrechtsordnung, weit über das Vertragsrecht hinaus (neben dem Sachenrecht insbesondere auch das Bereicherungsrecht). Wer hier glaubt, den Stein der Weisen in Händen zu halten, hat doch nichts als eitlen Tand. Wir bitten um Verständnis dafür, dass auch wir hier keine „Patentlösung“ vorschlagen können.
g) Verfahrensrecht ist entscheidend
Unabhängig davon bleibt nach jeder in Betracht kommenden Vertragsrechtsordnung das Prozessrisiko für den Käufer, den bezahlten Kaufpreis wiederzuerlangen. Gerade bei den Streitwerten im Verbrauchsgüterkauf liegt die Hauptschwierigkeit weniger in der richtigen Wahl der Rechtsordnung, sondern darin, einen Anwalt zu finden, der zu vertretbaren Kosten die Rechte des Verbrauchers vor zumeist ausländischen Gerichten geltend macht bzw. Ansprüche des Verbrauchers im Ausland durchsetzt.
h) Beratungsempfehlung
Im Ergebnis ist der Distanzkauf von Ware aus Verbrauchersicht in derartigem Maße Vertrauenssache, dass die Frage der anwendbaren Vertragsrechtsordnung kaum ins Gewicht fällt. Ein Berater wird der finnischen Kundin daher dabei helfen, Referenzen über die in Aussicht genommenen Vertragspartner einzuholen.
3. Polnische Kinderbetten
Ein Berater wird Herrn Kowalski auf folgende Unwägbarkeiten des Europäischen Vertragsrechts hinweisen:
a) good faith and fair dealing
Auch im b2b-Bereich besteht nach dem Europäischen Vertragsrecht nur eine eingeschränkte Vertragsinhaltsfreiheit. Dies ergibt sich vor allem aus Art. 85, daneben aber auch aus Art. 180 (für Fälle der Rückabwicklung).
b) Nachbesserungsrecht (Frage 4 der Studie)
Die Praxis wird in der Regel versuchen, das Nachbesserungsrecht des Verkäufers nach Art. 110 des Entwurfs in Vertragsbedingungen auszuschließen. Grund hierfür ist folgender: Das Nachbesserungsrecht bedeutet, dass der Käufer fehlerhafte Ware nicht sofort zurückweisen kann, sondern diese erst einmal, u. U. für Wochen, behalten muss, bis die Nachbesserung durchgeführt worden ist. Während dieser Zeit blockiert sich der Käufer teuren Lagerraum mit Ware, die er erst später bzw. u. U. gar nicht (Saisonprodukte!) absetzen können wird. Eine offene Frage ist allerdings, ob eine Vertragsbedingung, die den Art. 110 des Entwurfs ausschließt, als „unfair“ nach Art. 85 des Entwurfs beanstandet werden wird. Art. 110 erscheint daher verzichtbar. Dort wo die Vorschrift zweckmäßig ist (z. B. bei Lieferung einer Maschine als Investitionsgut), können die Parteien das Nachbesserungsrecht explizit vereinbaren.
c) Zinsberechnung
Auch im b2b-Bereich bleiben die oben aufgezeigten Unsicherheiten bei der Rückabwicklung und Verzinsung bestehen. Vertragliche Regelungen insoweit stehen unter dem Vorbehalt des Art. 85 des Entwurfs.
d) Beratungsempfehlung
Schon wegen dieser drohenden Inhaltskontrolle sollte Herr Kowalski kein Europäisches Vertragsrecht vereinbaren. Auch seine Vertragspartner werden sich hierauf kaum einlassen. Wegen der hohen Transaktionskosten der Rechtsverwirklichung scheidet auch die Wahl englischen Rechts aus. In Betracht kommt eine kontinentaleuropäische Rechtsordnung (z. B. deutsches oder Schweizer Recht) mit einer Schiedsklausel.
IV. Fazit
Das Fazit ist für ein Europäisches Vertragsrecht in Gestalt des vorliegenden Entwurfs leider wenig schmeichelhaft. Ein sorgfältiger Berater wird in allen drei Ausgangfällen nicht empfehlen, Europäisches Vertragsrecht für anwendbar zu erklären. Frage 1 der Studie muss daher derzeit verneint werden.
Nach jetzigem Stand würde das Europäische Vertragsrecht Gefahr laufen, das Schicksal der CISG zu teilen, die jedenfalls der deutschen Rechtspraxis in erster Linie nur aus den Klauseln bekannt ist, mit der man seine Anwendung ausschließt. Die ersten Klauseln, die dies schon heute auch für das kommende Europäische Vertragsrecht so vorsehen, sind dem Unterzeichner bereits in Gestalt von Entwürfen großer Anwaltsfirmen auf den Beurkundungstisch gekommen.
Allerdings beginnen die Vorbehalte der deutschen Rechtspraxis gegen die CISG zu schwinden, seit nämlich die Schuldrechtsmodernisierung von 2002 das deutsche BGB näher an das Leistungsstörungskonzept der CISG herangeführt hat. Kann für ein Europäisches Vertragsrecht auf der Basis dieses Entwurfs eine ähnliche vorsichtig optimistische Prognose gewagt werden?
Empirische Daten deuten darauf hin, dass dies – bleibt es beim jetzigen Entwurf – wohl nicht der Fall sein wird. Dafür sind die Unterschiede zur CISG speziell für den b2b-Sektor zu groß. Sie liegen, wie aufgezeigt, in den ausufernden Billigkeitsregelungen und dem Damoklesschwert der Inhaltskontrolle individuell ausgehandelter Verträge bzw. Billigkeitsvorbehalte bei deren Durchsetzung. Dies engt die Vertragsabschluss- und –inhaltsfreiheit über Gebühr ein und macht Recht wenig planbar. Betroffen sind mithin genau die Faktoren, die für eine Rechtswahl ausschlaggebend sind.
Die zentrale Bedeutung von Sicherheit und Prognostizierbarkeit im Recht für die Rechtswahl, verbunden mit einem großen Spielraum der Parteien bei der privatautonomen Gestaltung, ist zentrales Ergebnis der 2008 erstellten „Oxford Civil Justice Survey“ (http://denning.law.ox.ac.uk/iecl/ocjsurvey.shtml) der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Stefan Vogenauer (im folgenden „Vogenauer-Studie“)[7].
Die unabhängig erstellte Vogenauer-Studie zeigt insbesondere die Lücke zwischen gefühlter und gelebter Rechtswirklichkeit bei der Rechtswahl: Die Mehrheit der Befragten meint, englisches Recht sei erste Präferenz bei der Rechtswahl. Erst die Rechtswirklichkeit zeigt die starke Stellung des Schweizer Rechts, das offenbar der oben skizzierten Erwartungshaltung des Rechtsverkehrs im besonderen Maße entspricht.
In der Vogenauer-Studie wurde im Übrigen auch die Frage nach dem Bedürfnis für ein Europäisches Vertragsrecht gestellt. Sie wurde von einer überwältigenden Mehrheit der Befragten bejaht. Eine ebenso große Mehrheit würde allerdings keine der derzeit angebotenen supranationalen Vertragsrechtsordnungen wählen.[8] Dies ist erschreckend, denn offenbar hält der Rechtsanwender die ihm derzeit angebotenen Rechtsordnungen nicht für geeignet. Ein solches Ergebnis empirischer Forschung kann nicht ohne Konsequenzen für die Ausgestaltung des Europäischen Vertragsrechts bleiben.
Vor diesem Hintergrund erscheint daher derzeit folgende Prognose plausibel:
Das Europäische Vertragsrecht, bleibt es bei diesem Entwurf, wird für den Verbraucher keine besondere Relevanz haben, da es sein Schutzniveau gegenüber den jetzigen nationalen Rechten der Mitgliedstaaten nicht substanziell ändert. Im Rechtsverkehr unter Unternehmern wird es zugunsten freiheitlich orientierter Vertragsrechtsordnungen abgewählt werden. Es besteht letztlich sogar die Gefahr der Abwanderung von Unternehmen in (Nichtmitglied-)Staaten mit einer derartigen Vertragsrechtsordnung.
Manche meinen, der Verzicht auf die bürgerlich-liberale Vertragsfreiheit sei der Preis für ein geeintes Europa. Das ist jedoch keine politisch akzeptable Alternative, auch nicht mit dem Argument, der Verbraucher hätte auch bisher auf das Aushandeln einzelner Vertragsbedingungen verzichtet, so dass für ihn die Vertragsfreiheit selbst auch verzichtbar sein soll[9]. Das wäre ein wesentlicher Schritt in Richtung eines eher bevormundenden Staates. Das Europäische Vertragsrecht ist zu wichtig, als dass ihm nur das Schicksal bestimmt sein sollte, in Rechtswahlklauseln neben dem Kollisionsrecht der gewählten Vertragsrechtsordnung und der CISG ebenfalls ausgeschlossen zu werden.
[1] Eine Anpassung von Art. 145 erscheint nicht erforderlich. Der Internet-Provider des Verkäufers und des Käufers können insbesondere für Zwecke des Art. 145 Abs. 3 als „carrier“ angesehen werden, so dass die Sachgefahr dann auf den Käufer übergeht, wenn die heruntergeladene Datei den Server des Internet-Providers des Käufers erreicht hat. Lösungen hierzu sollten der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft überlassen werden.
[2] Näher hierzu: (bereits erwähnte) Stellungnahme des Deutschen Notarvereins vom 30. Januar 2011 .
[3] Der DIHT hat zum Entwurf einer Verbraucherrechterichtlinie eine entsprechende Untersuchung durchgeführt.
[4] von Westphalen, BB, Editorial zu Heft 22/2011.
[5] 72 L.J.K.B. 794, [1900-03] All E.R.Rep. 20 (1903), der sog. Krönungszugfall. Zu ihm auch Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, München 1993, S. 817 (chapter 25 IV 7 a.E.) und ders., Savignys Vermächtnis, JBl 1998, 273.
[6] Ulp. D 5, 3, 20, 6.
[7] Siehe Fragen 19, 21, 33, 35, 38, 39 und 40 der Vogenauer-Studie.
[8] Hierzu Fragen 23-27 der Vogenauer-Studie: 70 % der Befragten wünschen sich ein Europäisches Vertragsrecht. 81 % wählen nie oder fast nie die „lex mercatoria“, 83 % nie oder fast nie die UNIDROIT-Principles, 96 % nie oder fast nie die Principles of European Contract Law. 15 % wählen regelmäßig oder gelegentlich die CISG.
[9] So aber von Westphalen, ZIP 2011, 983.