Stellungnahme vom 04.05.2004
Der Deutsche Notarverein dankt für die Gelegenheit zur Stellungnahme, mag auch die hierfür gesetzte Frist so bemessen sein, dass eine vertiefte Beschäftigung mit dem Entwurf letztlich ausgeschlossen ist. Bezüglich Art. 1 des Gesetzentwurfs ist dies hinnehmbar, bestand doch aufgrund des vorgelegten Diskussionsentwurfs ausreichend Gelegenheit zu Überlegungen. Bezüglich Art. 2, also des SEBG, ist dies bedauerlich, denn dieser Teil des Gesetzes hätte mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit verdient wie das SEAG.
Zwei grundlegende Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs haben zwischen der Veröffentlichung des Diskussionsentwurfs und dem Referentenentwurf die gesellschaftsrechtliche und die steuerrechtliche Landschaft Europas nicht nur verändert, sondern nachgerade umgepflügt. In „Inspire Art“ hat der Europäische Gerichtshof das europäische Grundrecht der Gesellschaften auf „Auswanderung“ anerkannt. Juristische Personen und Personengesellschaften, die ein Gewerbe betreiben, können nicht mehr, wie Lutter einst so plastisch formulierte, bei Grenzübertritt totgeschlagen werden. In „Lasteyrie du Saillant“ hat der Europäische Gerichtshof den dezenteren Nachfolgemodellen der Reichsfluchtsteuer unseligen Andenkens eine deutliche Absage erteilt. Die Diskussion darüber, an welche Regelungen des Aufenthaltsstaates sich eine zugezogene Gesellschaft zu halten hat, ob der EuGH eine verdeckte Abkehr von „Daily Mail“ vollzogen hat, ob also handelsrechtliche Wegzugsbeschränkungen noch zu halten sind, hat erst begonnen.
In unserer Stellungnahme zum Diskussionsentwurf eines SEEG (veröffentlicht in notar 2003, S. 94 ff.) haben wir dem Gesetzgeber ein klares Bekenntnis zum Europäischen Gedanken und eine weitgehende Gestaltungsfreiheit für die Praxis empfohlen. Gleiches gilt für unsere einige Monate später, zwei Tage vor der Veröffentlichung von Inspire Art abgegebene Stellungnahme zur Bekämpfung von Missbräuchen des GmbH-Rechts (notar 2003, S. 111 ff.). In beiden Stellungnahmen haben wir die Linie des EuGH vorgeahnt (was allerdings nicht schwer war) und vor der Illusion gewarnt, ein Rechtssystem ließe sich durch künstliche Barrieren erhalten.
Die Analyse des SEAG zeigt, dass unsere Anregungen vereinzelt in den Entwurf Eingang gefunden haben, etwa in § 22 Abs. 6, in den geänderten § 51 und in den neuen § 53. Damit aber hat es schon sein Bewenden. Denn das SEEG atmet den Geist des Misstrauens gegen das Fremde und gegen die Fähigkeiten der Kautelarjurisprudenz.
Das Misstrauen gegen das Ausland spricht aus den Bestimmungen, in denen unter dem Deckmantel des Minderheiten- und Gläubigerschutzes das deutsche Gesellschaftsrecht der SE mit einem möglichst unüberwindlichen System von Sicherungen versehen wird.
Das Misstrauen gegen die Kautelarjurisprudenz spricht aus den §§ 20-49 SEAG. Die Belege hierfür sind zahlreich. Warum etwa soll eine Mitarbeiterbeteiligungsgesellschaft oder eine Stiftung keinen Sitz im Verwaltungsrat haben können (§ 27 Abs. 3 SEAG)? Warum soll ein audit committee nicht möglich sein, warum soll Entscheidungen über die Zustimmung nach § 68 Abs. 2 Satz 2 AktG nur der ganze Verwaltungsrat treffen können und warum soll – z.B. nach einem Grundsatzbeschluss des gesamten Verwaltungsrats – der Ausgabepreis bei einer Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital in einer günstigen Börsensituation nicht schnell durch einen kleinen Ausschuss des Verwaltungsrats festgelegt werden können (§ 34 Abs. 4 Satz 2 SEAG)? Warum hat der Verwaltungsrat (und nicht die geschäftsführenden Direktoren wie im DiskE) die Aufgabe, „dafür zu sorgen, dass die erforderlichen Handelsbücher geführt werden“ (§ 22 Abs. 3 Satz 1 SEAG) und zugleich die Befugnis, diese Bücher einzusehen und zu prüfen (§ 22 Abs. 4 Satz 1 SEAG), wobei die Adressaten der Buchführungspflicht als Mitglieder des Verwaltungsrats selbst den Auftrag an den Abschlussprüfer erteilen (§ 22 Abs. 4 Satz 3 SEAG)?
Auf all das haben wir schon in der Stellungnahme zum Diskussionsentwurf eingehend hingewiesen und angesichts der Vielzahl der Einsatzmöglichkeiten der SE für eine weitgehende Gestaltungsfreiheit plädiert. Statt dessen entscheidet sich der Referentenentwurf für eine defensive Regelungstechnik.
Das gibt zu denken: Jeder halbwegs versierte Vertragsjurist wird schon angesichts der Regelungsdichte des SEAG seinem Mandanten empfehlen, sich nicht in das Prokrustesbett der deutschen SE zu begeben. Vernünftigerweise gründet man gleich eine Kapitalgesellschaft ausländischen Rechts und bringt die Anteile an der deutschen Gesellschaft in diese ein. Die steuerlichen Probleme (Aufdeckung des Anteilswerts) dürften dank des EuGH inzwischen gelöst sein, auf die Umsetzung der Fusionsrichtlinie braucht man nicht mehr zu warten. Noch sicherer ist es, das Kapital gar nicht erst in eine deutsche Gesellschaft zu investieren, sondern gleich in ein ausländisches Unternehmen zu stecken – ob dann Betriebsstätten und damit Arbeitsplätze in Deutschland entstehen, ist allerdings fraglich. Wer Schutzzäune errichtet, verteidigt nicht das bessere, sondern das schlechtere System.
Bevormundung prägt auch das SEBG, Art. 2 des Gesetzes. So hat niemand die betroffenen Arbeitnehmer gefragt, ob sie die Segnungen des SEBG eigentlich wollen. Denn selbst ein rechtsgeschäftlicher Verzicht aller Arbeitnehmer auf die Anwendung des SEBG ist nicht vorgesehen. Auch wenn ein deutscher Betrieb nach den Bestimmungen des deutschen Betriebsverfassungsrechts gar keine Arbeitnehmervertretung braucht (oder keine hat, weil die Arbeitnehmer diese nicht wollen), bleibt das Gesetz anwendbar (anders die Kann-Bestimmung in Art. 3 Abs. 2 lit b) Absatz 3 SE-RL). Fiat iustitia et pereat mundus. Dem gemäß wird mit Gründlichkeit alles durchnormiert, bis hin zur Übernahme von Kosten für Schulungs- und Bildungsveranstaltungen (siehe etwa §§ 31-33 SEBG). Unsere europäischen Partner werden hiervon nicht begeistert sein.
Trotz der Regelungsdichte des SEBG hätte man sich im Übrigen etwas bessere methodische Grundlagen bei § 2 Abs. 1 Satz 1 SEBG gewünscht. Der Begriff des Arbeitnehmers soll sich nach den „Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ des jeweiligen EU-Staates richten. Was sind denn „Gepflogenheiten“? Sind das auch Sitten, Handelsbräuche, Merkwürdigkeiten, Unsitten gar, oder sind das nur Normen des Gewohnheitsrechts im Sinne unseres Art. 2 EGBGB?
In der Presseerklärung des BMJ anlässlich der Vorstellung des Diskussionsentwurfs hieß es, die Einführung der SE erleichtere deutschen, international agierenden Unternehmen die grenzüberschreitende Betätigung und stärke deren internationale Wettbewerbsfähigkeit. Dieses Ziel wird wohl nicht erreicht.