Während der COVID-19-Pandemie ermöglichte das Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts- Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (kurz: COVMG) die Möglichkeit der Durchführung von virtuellen Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften. Dieses Instrument soll ausweislich des Gesetzentwurfs nun in angepasster Form auch für die Zeit nach dem Auslaufen des COVMG verstetigt werden und eine dauerhafte Regelung im Aktiengesetz erhalten.
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden zwar, nimmt man die „Covid-19-Hauptversammlung“ des COVMG als Vergleichsmaßstab, die Aktionärsrechte gestärkt. Legt man jedoch das im Aktiengesetz gewachsene Leitbild einer präsenten Hauptversammlung mit Rede und Gegenrede zugrunde, sind die Aktionärsrechte nach der Konzeption des Gesetzentwurfs weiterhin defizitär ausgestaltet. Auch eine der Präsenz- oder Hybridversammlung vergleichbare Diskussionsdynamik wird kaum erreichbar sein. Vor diesem Hintergrund und der bereits nach dem geltenden Aktiengesetz bestehenden Möglichkeit einer „volldigitalen“ Teilnahme aller Aktionäre gibt der Deutsche Notarverein generell zu bedenken, ob eine virtuelle Hauptversammlung, die das Recht auf physische Präsenz aller Aktionäre – darunter viele ältere, mitunter technisch unkundige Personen – vollständig ausschließt, außerhalb der auf Kontaktvermeidung ausgerichteten Pandemiebekämpfung tatsächlich erforderlich und geboten ist.
Insgesamt ist mit dem Gesetzentwurf eine Verlagerung der Wahrnehmung der Aktionärsrechte zeitlich in das Vorfeld der Hauptversammlung festzustellen. Die Ausdehnung des Rede- und Fragerechts in das Vorfeld der Hauptversammlung stellt grundsätzlich eine praktikable Grundlage für die virtuelle Hauptversammlung dar und kann auch eine Qualitätssteigerung der Entscheidungsbildung in der Versammlung bewirken. Zugleich erscheint dem Deutschen Notarverein etwa eine strenge Präklusionsfrist für Gegenanträge von 14 Tagen vor der virtuellen Hauptversammlung zu lange, zumal den Aktionären nach der Konzeption des Gesetzentwurfs erst sechs Tage vor der Versammlung der Bericht des Vorstands oder sein wesentlicher Inhalt zugänglich zu machen ist. Jedenfalls sollte der Gesetzentwurf nach der Bewertung des Deutschen Notarvereins um ein Recht der Aktionärsminderheit auf Einberufung einer Präsenzhauptversammlung, die auch als hybride Versammlung stattfinden kann, ergänzt werden. Damit würde gerade in sensiblen Angelegenheiten dem berechtigten Anliegen einer Aktionärsminderheit nach einer Präsenzversammlung als Grundform der partizipatorischen Willensbildung mit diskursiver Austauschmöglichkeit Rechnung getragen werden können.
Dass der Gesetzentwurf im Falle eines Beurkundungserfordernisses die verpflichtende Anwesenheit der Notarin oder des Notars am Ort der (virtuellen) Hauptversammlung festschreibt, ist richtig. Mit Blick auf die besondere Beweiswirkung notarieller Urkunden ist eine unmittelbare und unverfälschte Wahrnehmung der Notarin oder des Notars als neutrale Instanz vor Ort essenziell. Dies dient der präventiven Gewährleistung der gesetzlichen Verfahrensbestimmungen bei der Beschlussfassung sowie der rechtssicheren Dokumentation der Willensbildung zum Schutz aller Beteiligten und der Allgemeinheit. Bei der rein virtuellen Hauptversammlung erlangt dies besondere Bedeutung, weil bei dieser die Aktionäre nicht selbst anwesend sein und das Geschehen unmittelbar beobachten können.
Hier finden Sie die vollständige Stellungnahme des Deutschen Notarvereins vom 11. März 2022 zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften.