Stellungnahme vom 30.04.2020
Der Deutsche Notarverein dankt für die Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Bericht der französischen Nationalversammlungsabgeordneten Valérie Gomez-Bassac über eine Ausarbeitung eines Europäischen Wirtschaftsgesetzbuches.
Wir werden uns bei der Stellungnahme auf einige ausgewählte Punkte beschränken. Da die Vorschläge von Frau Gomez-Bassac im Ausgangsdokument nicht nummeriert sind, haben wir der Übersichtlichkeit halber im Folgenden den jeweiligen Vorschlag, auf den wir uns beziehen, zitiert.
A. Bestandsaufnahme des europäischen Besitzstands
Vorschlag: Auf europäischer Ebene eine Arbeit der Rechtsangleichung, indem eine Konsolidierung des europäischen Besitzstands durch eine Bestandsaufnahme durchgeführt wird, um das Wirtschaftsrecht für kleine und mittlere Unternehmen, Händler, Handwerker und den Sektor der Sozial- und Solidarwirtschaft lesbarer zu machen.
Den Vorschlag der Abgeordneten, die französische Rechtsanwältin ist, bestehendes europäisches Recht in einer Datenbank zu bündeln, inhaltlich zu ordnen und allen Bürgern in der EU – auch sprachlich – zugänglich zu machen, befürworten wir. Auch wenn möglicherweise der Bedarf aufseiten der KMUs, sämtliche sie betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften in einer Sammlung nachschlagen zu können, nicht ganz so erheblich, wie vermutet, ist, wäre eine solche Datenbank in jedem Fall eine Arbeitserleichterung für die juristische Praxis, auch wenn diese in ihren jeweiligen Fachgebieten bereits mit von juristischen Verlagen herausgegebenen Gesetzessammlungen arbeitet.
B. Einrichtung eines Koordinationskomitees
Vorschlag: Einrichtung eines Koordinationskomitees, das die Arbeit auf drei Ausschüsse verteilt und ein Dashboard für jeden einzelnen von ihnen einrichtet.
Frau Gomez-Bassac schlägt vor, drei Expertenausschüsse einzusetzen. Der erste solle für die „einfache Zusammenstellung“ bestehender europäischer Normen zuständig sein, die dann als Kompilations-Kodifikation allgemein zugänglich gemacht werden soll (dazu siehe bereits oben A.). Der zweite Ausschuss solle vorhandene Lücken in den europäischen Normen durch Ausarbeitung neuer Vorschriften und Gesetze schließen. Und der dritte Ausschuss solle schließlich angepasste Verträge erarbeiten, die für eine neue Gesellschaftsform gelten sollen, die in allen Mitgliedstaaten anerkannt ist (zu diesem Ziel siehe unten D.).
In ihrem Bericht erwähnt die Abgeordnete zwar die Arbeiten der französischen Juristenvereinigung Association Henri Capitant und will deren Vorarbeiten auch von dem von ihr vorgeschlagenen ersten Ausschuss verwerten lassen. Es wird aber unseres Erachtens nicht deutlich genug hervorgehoben, welchen Umfang diese bereits stattfindenden Arbeiten haben. Im Oktober 2016 war die unter der Schirmherrschaft der Association Henri Capitant erarbeitete Studie unter dem Titel „Das europäische Aufbauwerk im Wirtschaftsrecht: Besitzstand und Perspektiven“ erschienen, die in den im weitesten Sinne unter das Wirtschaftsrecht fallenden Bereichen den unionsrechtlichen Bestand darstellte und Vorschläge für seine Weiterentwicklung unterbreitete. Seit März 2017 sind in den Fachbereichen Marktrecht, Recht des elektronischen Geschäftsverkehrs, Gesellschafts-, Kredit-, Vollstreckungs-, Insolvenz-, Bank-, Versicherungs-, Finanzmarktrecht, Recht des geistigen Eigentums, Sozial- und Arbeitsrecht sowie Steuerrecht 12 mittlerweile internationale Arbeitsgruppen tätig. Diese haben das Ziel, das Primärrecht, die Gesetzgebung und die Rechtsprechung der EU so zu erfassen, dass eine größtmögliche Kohärenz und Zugänglichkeit der bestehenden Regelungen erreicht wird.
Insoweit bleibt in dem Bericht der Abgeordneten offen, ob hier ein eigenständiges zweites Vorhaben angestoßen werden soll, obwohl bereits ein erstes Vorhaben mit fast identischer Zielsetzung existiert, dessen erste Ergebnisse für das Jahr 2020 angekündigt sind. Nach diesseitiger Auffassung würde es sich anbieten, die finalen Ergebnisse der unter der Schirmherrschaft der Association Henri Capitant stehenden Arbeitsgruppen abzuwarten, um sodann zu entscheiden, welche der Ergebnisse für die Praxis verwertbar erscheinen.
C. „SASE“
Vorschlag: KMU und Kleinstunternehmen eine in allen Mitgliedstaaten anerkannte Rechtsform (SASE) zur Verfügung stellen, mit der die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaftsakteure und ihre Dynamik durch eine allgemein anerkannte Bezeichnung gefördert werden.
Die Abgeordnete Gomez-Bassac schlägt vor, das französische Modell der vereinfachten Aktiengesellschaft (société par actions simplifié, SAS) zu übernehmen, da diese gegenüber dem Modell der SE überlegen wäre, die nicht auf KMUs angepasst sei.
Diesen Vorschlag sehen wir kritisch. Dabei spielen Erwägungen eine Rolle, die auch schon gegen den Kommissionsvorschlag zu einer SPE[1] und auch der Societas Unius Personae (SUP)[2] sprachen. In Frankreich ist die S.A.S. als Gesellschaftsform zugegebenermaßen häufig, nachdem sie seit 1999 auch als Ein-Mann-Gesellschaft (Société par actions simplifiée Unipersonelle, SASU) ausgestaltet sein kann und im Jahre 2009 das ursprünglich notwendige Mindeststammkapital auf einen symbolischen Euro abgesenkt wurde und die Bestellung eines Abschlussprüfers bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen nicht erforderlich ist.
Zunächst muss hinterfragt werden, ob tatsächlich ein Bedürfnis nach einer in allen Mitgliedstaaten einheitlichen Rechtsform besteht, die zudem neben die im jeweiligen Mitgliedstaat bereits langjährig bewährten und in die nationale Gesetzgebung eingebundenen Gesellschaftsformen in Konkurrenz träte. Bereits jetzt ist es möglich, dass die nationalen haftungsbegrenzten Rechtsformen aufgrund der Dienst- und Niederlassungsfreiheit problemlos in der gesamten EU tätig sein sowie frei ihren Verwaltungssitz[3] und Satzungssitz[4] verlegen können, wovon auch rege Gebrauch gemacht wird. Weshalb eine Stärkung des Handelsverkehrs im Binnenmarkt durch das Hinzutreten einer weiteren Gesellschaftsform erfolgen soll, ergibt sich aus dem Bericht nicht schlüssig.
Zu erwähnen ist auch, dass es in den USA – die nicht zuletzt im Bericht der Abgeordneten vielfach als Vorbild genannt werden – weder ein einheitliches Gesellschaftsrecht in den Bundesstaaten gibt noch eine „Federal Inc.“. Vielmehr werden die Gesellschaften nach dem Recht des jeweiligen Bundesstaates errichtet und können dann landesweit tätig werden – im Ergebnis insoweit nicht anders als der jetzige acquis in der EU. Das lässt darauf schließen, dass verschiedene nationale Gesellschaftsrechte nicht so ein erhebliches Hindernis darstellen, wie es oft dargestellt wird.
Tatsächliche Hemmnisse im zwischenstaatlichen Handelsverkehr der Europäischen Union liegen aus unserer Sicht vielmehr vorrangig in den 23 unterschiedlichen Amtssprachen der Europäischen Union sowie den abweichenden Steuersystemen und -sätzen. Aus diesem Grund empfiehlt sich als erster Schritt, den Vorschlag der Abgeordneten aufzugreifen, die Regeln für die Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage, deren Einnahmen den Mitgliedstaaten wie bisher zufließen würden, zu vereinheitlichen.
Ferner ist darauf zu achten, dass nationale kollektivrechtliche Mitbestimmungsrechte gewahrt bleiben, um zu vermeiden, dass eine neue EU-Gesellschaftsform zu einem Unterlaufen der Arbeitnehmerrechte genutzt wird.
D. Standardverträge
Vorschlag: Eine allseits anerkannte Rechtsform schaffen, die den Zugang zu Standardverträgen ermöglicht, welche Transaktionen auf dem Markt nach gemeinsamen Regeln erleichtern.
Der Vorschlag, für die vorerwähnte allseits anerkannte Rechtsform Standardverträge zur Verfügung zu stellen, sehen wir ebenfalls kritisch. Zunächst stellt sich die Frage nach der Regelungskompetenz der EU. Würde man zulassen, dass als Anknüpfungspunkt eine nach Unionsrecht errichtete Gesellschaft einen Vertrag schließt, könnte auf diesem Weg letztlich jede Materie unionsrechtlich geregelt werden. Daher muss eine EU-Regelungskompetenz für den jeweiligen „Standardvertrag“ unabhängig davon bestehen, ob die Gesellschaft einen solchen schließt. Andernfalls droht eine Aushöhlung der Kompetenzzuweisungen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie ein solcher Standardvertrag das jeweilige Rechtssystem aller 27 Mitgliedstaaten in dem betreffenden Bereich abdecken soll. Es ist davon auszugehen, dass in den Mitgliedstaaten höchst unterschiedliche Regelungen etwa im Mietrecht zu Mietkautionen, Kündigungsfristen und
-formen sowie Nebenkosten bestehen, um nur einige zu nennen. Vor diesem Hintergrund bestünden zwei Möglichkeiten:
Das EU-Muster könnte alle Besonderheiten ausklammern. Dann würde sich das Muster allerdings mehr oder weniger auf die essentialia beschränken und wäre kaum geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen.
Denkbar wäre auch, dass das EU-Muster ein geschlossenes Regelungsregime für den bestimmten Rechtsbereich – etwa die Regelungen zum Mietvertrag – etabliert. Das hätte zur Folge, dass die sorgsam im politischen Prozess des jeweiligen Mitgliedstaates austarierten Regelungen letztlich nur noch Makulatur wären, soweit eine SASE Vertragspartner wäre. Vom vielbeschworenen Grundsatz der Einheit durch Vielfalt wäre nicht mehr viel übrig. Darüber hinaus wäre auch fraglich, inwieweit sich Vertragspartner überhaupt auf entsprechende Muster einlassen würden. Denn ein entsprechendes EU-Muster dürfte aus unserer Sicht nur fakultativ sein. Die Rechtsanwender stünden damit vor der Wahl, einen Vertrag nach dem jeweiligen nationalen Recht zu schließen oder das EU-Muster heranzuziehen. Beide Vertragsparteien müssten also prüfen, ob und inwieweit einzelne Regelungselemente für sie vorteilhaft oder nachteilig wären und auf dieser Grundlage entscheiden, welches Recht herangezogen wird. Nicht zuletzt zeigt dies deutlich, dass ein EU-Muster zu keiner Vereinfachung, sondern im Gegenteil zu einer Verkomplizierung führen würde.
Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass Standardverträge immer auf den jeweiligen Einzelfall angepasst werden müssen. Die nach Vorstellung der Abgeordneten gemeinsam von Vertretern der einzelnen Mitgliedstaaten auszuarbeitenden, mit der Rechtsform verbundenen Verträge könnten bei juristischen Laien die Fehlvorstellung hervorrufen, dass es einer Einzelfallprüfung nicht mehr bedarf und alle rechtlichen Eventualitäten durch den Standardvertrag bereits abgedeckt wären. Darüber hinaus bestünde die Frage, wer für die Richtigkeit und Vollständigkeit der zugänglichen Standardverträge die Gewähr tragen soll und wer diese regelmäßig aktualisiert.
E. Registervernetzung
Vorschlag: Entwicklung und Unterstützung der allgemeinen Vernetzung zwischen den verschiedenen Registern in den Mitgliedstaaten.
Diesen Vorschlag begrüßen wir. Die europäischen Notare haben bereits aktiv an der Verknüpfung der Testamentsregister mitgewirkt. Die Vernetzung von Vorsorgeregistern könnte der nächste Schritt sein.
F. Eintragung von Vereinen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben in ein Zentralregister
Vorschlag: Generelle Eintragung von Vereinen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, in ein Zentralregister, das das Handelsregister sein könnte.
In Deutschland werden nur Idealvereine ausschließlich in das Vereinsregister eingetragen. Sobald der Verein einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhält, der einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert, und damit ein Handelsgewerbe im Sinne von § 1 Abs. 2 HGB vorliegt, muss auch die Eintragung in das Handelsregister erfolgen.[5]
Allerdings wäre erwägenswert, auch für Idealvereine, die internationale Geldflüsse verzeichnen, eine Eintragungspflicht in das Handelsregister aufzunehmen, um der Terrorismusfinanzierung entgegenzuwirken.
G. Prüfen und Analysieren der Vorschriften im Dienstleistungssektor
Vorschlag: Prüfen und Analysieren der Vorschriften im Dienstleistungssektor unter Einbeziehung bewährter Verfahren, um Hindernisse abzubauen.
Hinsichtlich dieses Vorschlags sind wir der Auffassung, dass die bestehende EU-Dienstleistungs-RL (Richtlinie 2006/123/EG) kein Handelshindernis darstellt. Das Argument der Abgeordneten, gerade KMUs mit relativ begrenztem Umsatz würden unter den Kosten für Rechtsberatung leiden, um auf einem anderen Markt ihre Leistung verkaufen zu können, weil sie die dortigen Regelungen nicht beherrschten, verfängt unseres Erachtens nicht. Der Schutz seiner Bürger erfordert, dass jeder Mitgliedstaat das Recht hat, von einem Leistungserbringer zu fordern, sich den dortigen Regelungen zu unterwerfen, was durchaus landestypische Anforderungen sein können, beispielsweise Hygienevorschriften. Im Rahmen eines falschverstandenen Harmonisierungswunsches nun alle Anforderungen so stark abzusenken, dass jede Leistung überall so erbracht werden kann, dass auch der rechtsunkundigste Leistungserbringer sich im jeweiligen Zielland über die dortigen gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr zu informieren braucht, würde das oft zitierte „race to the bottom“ auf die Spitze treiben.
Fußnoten:
[1] Dazu eingehend Stellungnahme des DNotV vom 31.7.2008, abrufbar unter https://www.dnotv.de/stellungnahmen/vorschlag-fuer-eine-verordnung-des-rates-ueber-das-statut-einer-europaeischen-privatgesellschaft-kom-2008-396-endgueltig/.
[2] Dazu eingehend Stellungnahme des DNotV vom 30.4.2014, abrufbar unter https://www.dnotv.de/stellungnahmen/entwurf-einer-richtlinie-ueber-gesellschaften-mit-beschraenkter-haftung-mit-einem-einzigen-gesellschafter-vom-09-04-2014-com2014-212-final-nachfolgend-entwurf/.
[3] Siehe etwa die EuGH-Urteile in den Rechtssachen Überseering (C-208/00), Inspire Art (C-167/01), Cartesio (C-210/06), und National Grid (C-371/10).
[4] Siehe etwa die EuGH-Urteile in den Rechtssachen Vale (C-378/10) und Polbud (C-106/16). Der grenzüberschreitende Formwechsel ist mittlerweile unionsrechtlich geregelt in den Art. 86 ff. der GesRRL, die bis zum 31.1.2023 in deutsches Recht umzusetzen sind (Art. 3 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2019/2121, ABl. EU 2019, L 321/1.
[5] Vgl. OLG Köln, Urteil vom 24.05.2016, Az. 2 Wx 78/16.